»Die großen Fragen stellen«
Ian Rankin über den 25. John-Rebus-Roman und seinen eher zufälligen Weg ins Kriminalgenre
Ian Rankin, Großbritanniens führender Kriminalschriftsteller, hat fast alle Preise gewonnen, die man in seiner Sparte gewinnen kann. Der Bestsellerautor aus dem schottischen Edinburgh schreibt seit fast vier Jahrzehnten über John Rebus, aber es ist das erste Mal, dass sich der mittlerweile pensionierte Detective hinter Gittern wiederfindet.
Olaf Neumann sprach mit Sir Ian Rankin, 65, über seinen neuesten Kriminalroman »Die dunkelste Stunde der Nacht«, aber auch über seine Anfänge als Autor, Recherchen in Gefängnissen und die Verfilmungen seiner Romane.
Mr. Rankin, Sie feiern ein Jubiläum: Seit 1987 sind von Ihnen 25 John-Rebus-Romane erschienen. Lässt diese Figur ihrem Schöpfer einfach keine Ruhe?
Es ist halt eine sehr starke Figur. Nach »Exit Music« (deutsch »Ein Rest von Schuld«) dachte ich, dass es definitiv das letzte Rebus-Buch sei. Aber offensichtlich lauerte er in meinem Kopf und war buchstäblich zum Greifen nah. Nach fünf Jahren hatte ich schließlich die Idee für ein neues Buch, das unbedingt ein Rebus-Roman sein musste, und das war »Standing in Another Man's Grave« (dt. »Mädchengrab«). Seitdem weigert er sich, zu verschwinden.
Hören Sie immer noch die Stimme von Rebus, auch wenn Sie bereits zu neuen Büchern mit einem anderen Protagonisten übergegangen sind?
Manchmal. Wenn ich Bücher mit anderen Protagonisten schreibe, muss ich sehr darauf achten, dass sich Rebus' Stimme nicht aufdrängt. Denn er besitzt eine sehr starke Persönlichkeit und eine sehr starke Erzählerstimme. Als ich zum Beispiel beschloss, dass Rebus in den Ruhestand gehen würde, wollte ich immer noch Bücher über Polizisten schreiben. Und so habe ich Malcolm Fox erfunden. Denn er war ein ganz anderer Detective; einer, der mich nicht dazu verleitete, Rebus' Stimme zu verwenden.
Auf welche Weise machen seine jüngeren Sidekicks Malcolm Fox und Siobhan Clarke den alten, knorrigen Ermittler stark und interessant?
Sie sind gebildeter als er und liberaler in ihrem Denken. Rebus trat zu einer Zeit in den Dienst ein, als die Polizei eine Organisation von Männern war. Die glaubten an Vergeltung. Wenn man einmal etwas Böses getan hatte, würde man immer ein schlechter Mensch sein. Rebus hat diese alttestamentarische Sicht auf die Welt. Und Figuren wie Siobhan Clarke und Malcolm Fox versuchen, ihn umzustimmen. In dem neuen Buch habe ich die Chance, Rebus' Meinung über die Leute zu ändern, die im Gefängnis sitzen und die er sonst für schlechte Menschen gehalten hätte. Strafgefangene sagen da zu ihm: »Nun, du bist jetzt unter uns. Sind wir wirklich so schlecht, sind wir so anders als du?«
Haben Sie die Recherchen im Gefängnis durchgeführt?
Ja. Ein Freund von mir war früher Gefängniswärter. Er brachte mich mit jemandem zusammen, der mir den Kontakt zum Direktor des Gefängnisses in Edinburgh vermittelte. Der führte mich dann herum, stellte mich dem Personal und einigen der Gefangenen vor. Bei einer Lesung für den Bibliothekar des Gefängnisses sprach ich auch mit Insassen. Es ging über das Schreiben als eine Form der Therapie, als eine Möglichkeit, dem Chaos in ihrem Kopf eine Form zu geben.
Sie meinen das Saughton-Gefängnis in Edinburgh?
Ja. Saughton ist der Stadtteil von Edinburgh, in dem sich das Gefängnis befindet, das offiziell His Majesty's Prison Edinburgh heißt. Die Insassen nennen es HMP Edinburgh.
Welcher Art von Straftätern sind Sie im Saughton-Gefängnis begegnet?
Gefängnisinsassen sind nicht sehr daran interessiert, mit Außenstehenden zu sprechen. Ich habe aber viele ehemalige Straftäter auf den Straßen und in den Kneipen von Edinburgh getroffen. Ich war in Gefängnissen auf der ganzen Welt und habe mit Häftlingen gesprochen. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung in einer Strafanstalt in London. Die Gefangenen waren sehr ruhig und benahmen sich gut. Als ich das Gefängnis verließ, erzählten mir die Wärter, dass unter meinen Zuhörern auch pädophile Straftäter waren. Darauf hatte man mich nicht vorbereitet. Das war also eine interessante neue Erfahrung.
Als ein Mitgefangener ermordet wird, ist Rebus in der perfekten Position, um den Fall zu untersuchen. Wie kommt er mit den Hierarchien und Ritualen im Gefängnis zurecht?
Als ich den letzten Rebus-Roman schrieb, der damit endet, dass er auf der Anklagebank sitzt und das Urteil verkündet wird, dachte ich wieder einmal, das sei das Ende der Reihe. Man erfährt in dem Buch nicht, ob er schuldig oder unschuldig gesprochen wird. Und dann fragten mich Leser immer wieder, wie es weitergehen würde. Und ich dachte: Nun, offensichtlich wird Rebus für schuldig befunden und kommt ins Gefängnis. Das ist eine wirklich interessante Situation, weil sie für Spannung und Dramatik sorgt. Man hat einen Ex-Polizisten in einem Gefängnis mit Leuten, die er kennt und die ihn verletzen oder töten wollen.
Was ist, wenn im Gefängnis ein Mord geschieht?
Nun, die Wärter geben dann den Häftlingen die Schuld, und die Häftlinge denken, dass es die Wärter gewesen sein müssen. Also steht der Gefangene kurz vor einer Explosion. Rebus ist derjenige, der am besten geeignet ist, solch ein Verbrechen aufzuklären. Das lässt ihn sich nützlich fühlen. Aber er braucht die Hilfe der Detectives von draußen. Also fragte ich den Gefängnisdirektor: »Was würde passieren, wenn es in Ihrem Gefängnis einen Mord gäbe?« Und er sagte, Polizisten aus Edinburgh würden den Fall dann untersuchen. Ich dachte, das ist großartig, denn ich kann meine Detectives hierher bringen, und Rebus kann sie kontaktieren. Denn sie brauchen seine Hilfe.
Im Gefängnis sind Drogen Teil des täglichen Lebens. Viele der Insassen neigen auch dazu, sich mit Rasierklingen zu verletzen. Ist das Leben im Knast tatsächlich so hart?
Mein Buch ist absolut authentisch! In Zeitungen wird viel darüber geschrieben, wie viele Drogen in die Gefängnisse gelangen. Die Behörden behaupten immer, es gäbe kein Problem mit Drogen in den Gefängnissen. Aber jeder weiß, dass es sie gibt. Irgendwann kam es zu dem Punkt, an dem man es nicht mehr leugnen konnte. Häftlinge sind einfallsreich, sie werden immer Wege finden, um an Drogen zu kommen. Sie sitzen manchmal 20 Stunden am Tag in der Zelle. Sie nehmen Drogen, um die Langeweile zu betäuben, um ihre existenziellen Qualen zu lindern. Um an Stoff heranzukommen, muss man zu den Drogenhändlern im Gefängnis gehen, die dafür Geld oder Dienstleistungen verlangen. Aufgrund dieser Hierarchie sind viele Gefangene tagtäglich völlig zombifiziert. Das ist nicht nur in Schottland so, nicht nur im Vereinigten Königreich.
Macht das Gefängnis die Menschen besser?
Nun, das könnte es. Es gibt dort Ausbildungsmöglichkeiten, so dass eine Person, wenn sie das Gefängnis verlässt, eine Arbeit finden kann. Das größte Problem der Strafgefangenen ist, dass sie später keine Arbeit finden und deshalb in ihre alten Gewohnheiten zurückfallen. Aber diese Bildungsmöglichkeiten werden gekürzt, weil es nicht genug Geld und Personal gibt. Die Zahl der Gefangenen, die nur sehr schlecht oder gar nicht lesen und schreiben können, ist seit Jahrzehnten relativ hoch. Vor vielen Jahren besuchte ich ein anderes Gefängnis in Schottland. Dort betreuten Häftlinge Mitinsassen, die nicht lesen konnten. Ich weiß aber nicht, ob das Programm immer noch in Betrieb ist.
Einige Rebus-Romane greifen politische Themen auf – wie den Lockerbie-Bombenanschlag über dem schottischen Ort Lockerbie, den G8-Gipfel oder den Brexit. Verstehen Sie sich nicht nur als gesellschaftlichen, sondern auch als politischen Beobachter, und zwar nicht nur auf das moderne Schottland bezogen?
Die meisten Schriftsteller sind in der einen oder anderen Form politisch, denn in der Kriminalliteratur geht es ja um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Es geht um die von Menschen geschaffene Gerechtigkeit im Gegensatz zur natürlichen Gerechtigkeit. Warum tun wir immer wieder schreckliche Dinge? Wenn man dieser Frage auf den Grund geht, stößt man unweigerlich auf die Politik; auf alles, was mit der menschlichen Natur zu tun hat, bis hin zu den politischen Netzwerken, die die Welt falsch handhaben. Aber ich bin kein sozialer Kommentator. Meine Bücher sind keine politischen Manifeste. Sie sind ein Versuch, den Leser zu unterhalten. Aber wenn man das tut, kann man auch einige große Fragen stellen.
Sie schrieben das erste Rebus-Buch, »Knots and Crosses« (dt. »Verborgene Muster«), als Sie noch an der Universität von Edinburgh studierten. Gab es einen bestimmten Vorfall, der Sie dazu anregte, ziemlich düstere Polizeiromane über Edinburgh zu verfassen?
Nein. Ich habe an der Universität die Romane von Muriel Spark studiert. In ihrem berühmtesten Buch »Die Blütezeit der Miss Jean Brodie« wird am Rande eine historische Gestalt aus Edinburgh erwähnt. Sie hieß William Brodie, war bei Tag ein Gentleman und bei Nacht ein Dieb. Er war eine der Inspirationen für Robert Louis Stevensons »Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde«. In meinem ersten Rebus-Buch spreche ich davon, dass Edinburgh in den 1980er Jahren immer noch eine Jekyll und Hyde-Stadt war. Ein Ort, der oberflächlich betrachtet rational, organisiert und kultiviert war, darunter aber korrupt, bösartig und voller sozialer Probleme. Doch niemand hat die Anspielungen auf Robert Louis Stevensons berühmtesten Roman bemerkt. Der zweite Rebus-Band in englischer Sprache hieß »Hide and Seek« (dt. »Das zweite Zeichen«). Ein Wortspiel à la »Jekyll and Hyde«. Aber auch hier erkannte niemand, dass es sich um ernsthafte Literatur über Gut und Böse handelte. Das Buch landete einfach im Krimi-Regal. Ich hatte eigentlich nie vorgehabt, Krimiautor zu werden, aber plötzlich war ich es.
Man hört oft, die Gesellschaft sei überall polarisiert und unfähig zum normalen, guten Austausch miteinander. Können Kriminalromane Erklärungen und Lösungen für gesellschaftliche Probleme bieten?
Krimis bieten keine Erklärungen oder Lösungen an, aber sie spiegeln die Ängste des heutigen Publikums wider. In den Psychothrillern, die gerade erfolgreich sind, wird die Technik gegen die Menschen eingesetzt. Ihr eigenes Mobiltelefon wird gegen Sie eingesetzt. Ihr Computer wird gegen Sie eingesetzt. Man spioniert Sie aus, man stiehlt Ihre Identität. Die allgemeine Paranoia besteht darin, dass irgendetwas aus der Vergangenheit, das man vergessen hat, zurückkommt und einen heimsucht.
Aber heutzutage ist die Technologie für die Arbeit der Polizei schon sehr nützlich.
Videoüberwachungssysteme wie CCTV sind heutzutage sehr wichtig. Auch die Aufzeichnungen der Anrufe, die eine Person getätigt hat, können eine ganze Menge über sie verraten. Die DNA-Technologie hat sich ebenfalls weiterentwickelt, so dass wir jetzt eine bessere Vorstellung davon bekommen, wer jemand gewesen und wie er gestorben ist. Im ersten Rebus-Roman gab es noch keine Mobiltelefone und nur sehr wenig DNA-Analyse. Das Faxgerät war die große Neuheit im Büro. Es gab nur sehr wenige Fernsehkameras in den Innenstädten. Die Welt war also einfacher, und manchmal wünschte ich als Autor mir, sie wäre immer noch so einfach.
Da wir über Technologie sprechen: Was halten Sie von Schriftstellern, die KI im kreativen Prozess einsetzen?
Ich finde, das sollte man nicht tun. Aber ich mache mir viel mehr Sorgen darüber, dass große Technologieunternehmen das Material von Schriftstellern stehlen. Sie haben ihre KI-Maschinen, die alle unsere Bücher durchforsten, damit sie lernen können. Ein Freund von mir hat ChatGPT gebeten, eine Ian-Rankin-Geschichte zu schreiben, und es war Müll. Ich würde gerne glauben, dass KI eine Blase ist und wir langfristig nichts von ihr zu befürchten haben. Aber die KI-Unternehmen werden immer stärker und drängen sich uns auf, ohne dass wir es wirklich wollen.
Befürchten Sie, dass eine neue Generation heranwächst, die nicht mehr unterscheiden kann zwischen einem durch KI erzeugten und einem von Menschenhand geschaffenen Produkt?
Besorgniserregender ist, dass es ihnen egal ist, ob die Inhalte von Menschen oder von Maschinen erzeugt wurden. Wenn sie ihre Musik oder Bücher umsonst bekommen, ist es ihnen schnuppe. Studenten verwenden jetzt KI, um Aufsätze zu schreiben. Für Lehrer und Professoren an den Universitäten wird es immer schwieriger zu erkennen, ob etwas maschinell erstellt wurde oder ob der Student es tatsächlich geschrieben hat. Wir bekommen langsam eine Bevölkerung von Schafen, die nur das Einfachste tut, damit sie mehr Zeit auf dem Sofa mit ihren Games verbringen kann. Die Menschen sind irgendwann nicht mehr in der Lage, mit sozialen Situationen umzugehen. Sie können etwas tun, ohne Sprache beherrschen zu müssen. Für uns Autoren, die wir darauf angewiesen sind, dass gebildete Menschen unsere Bücher kaufen, ist das sehr beängstigend.
Zwischen 2000 und 2007 hatte die BBC 14 Filme um Rebus gedreht. Und im Januar lief die TV-Serie »Ian Rankin's John Rebus« in Deutschland an – geschrieben von Gregory Burke. Wie war es, diese Serie mitzuproduzieren?
Ich hatte als ausführender Produzent nicht wirklich viel Mitspracherecht bei dem, was im Film zu sehen war. Ich habe einfach darauf vertraut, dass Drehbuchautor Gregory Burke gute Arbeit leistet, und das hat er auch getan. Er hat sich von Anfang an eine zweiteilige Geschichte vorgestellt; deshalb endete die erste Staffel auch mit einem Cliffhanger und einem Geheimnis. Aber er weiß, was in der zweiten Staffel passiert. Der Titel »Executive Producer« klingt ziemlich glamourös. Die Filmleute riefen mich an und sagten: »Ian, möchtest du eine kleine Cameo-Rolle in einer der Episoden?« Und ich sagte, das wäre toll. Sie bestellten mich also in die Oxford Bar, den Drehort. Dort habe ich mich ins Hinterzimmer gesetzt und gewartet, bis ich dran bin. Ich nahm also eine Zeitung mit und ein Buch zum Lesen, und ich bearbeitete meine E-Mails. Nach ein paar Stunden kam es mir vor, als wäre es sehr ruhig da draußen und schaute nach. Das Filmteam war tatsächlich weg! Schließlich rief ich den Drehbuchautor an und fragte, was passiert sei. Er sagte, sie hätten mich wohl vergessen. Das ist also die Macht, die ich als Produzent besitze. Ich habe nicht einmal einen Cameo-Auftritt in meinem eigenen Film bekommen!
Die Fragen stellte Olaf Neumann, 2025.
Ian Rankin, »Die dunkelste Stunde der Nacht«, deutsch von Conny Lösch, ist im September 2025 bei Goldmann erschienen.