Rankin über Rebus. Die Entstehung einer Kultfigur
Aus dem Englischen von Conny Lösch
„Männlicher Held (Polizist?)“
So lautete meine erste Notiz, datiert auf den 15. März 1985, zu der Figur, die später Detective Inspector John Rebus wurde. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, Doktorand an der University of Edinburgh und teilte mir mit zwei anderen Doktorandinnen eine Wohnung in der Arden Street. Seit sechseinhalb Jahren lebte ich mittlerweile in der Stadt, hatte sie aber noch immer nicht ganz zu fassen bekommen. Ich promovierte über die Romanautorin Muriel Spark und begann durch sie das phantastische Edinburgh zu ergründen.
Die Heldin aus Sparks berühmtestem Werk, The Prime of Miss Jean
Brodie (Die Blütezeit der Miss Jean Brodie), stammt von William Brodie ab, einer historischen Figur, die tatsächlich existiert hat. Brodie war Diakon der Stadt, Ratsmitglied und Möbeltischler – und ein Mann mit einem Doppelleben. Hochangesehen und tüchtig bei Tage, war er nachts der Anführer einer maskierten Bande, die in Häuser eindrang und deren Bewohner ihrer Wertsachen beraubte. Auf diese Weise finanzierte Brodie seinen ausschweifenden Lebensstil (zu dem auch ein paar anspruchsvolle Geliebte gehörten). Außerdem hatte er sich auf das Schlosserhandwerk verlegt, weshalb es ihm ohne Probleme gelang, sich unrechtmäßigen Zutritt zu verschaffen. Nach seiner Festnahme und Verurteilung wurde er auf einem Schafott gehängt, zu dessen Modernisierung er in seinem Hauptberuf selbst beigetragen hatte.
Aber Brodie diente darüber hinaus auch als Vorlage für eine weitere großartige Figur der schottischen Literatur – Robert Louis Stevensons Dr. Henry Jekyll. Muriel Spark war ein großer Fan von Stevenson, und so führten mich meine Recherchen auch zu
Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Allerdings hatte James Hogg bereits vor Stevenson in seinen
Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner die Vorstellung von einem Doppelgänger ausgeführt – ich musste also auch dieses Buch lesen. Gleichzeitig fand ich die aktuelle Literaturtheorie immer interessanter und hatte großen Spaß am „spielerischen“ Aspekt des Erzählens. Nicht umsonst benannte ich meinen fiktiven Detective nach einer Art Bilderrätsel und ließ ihn seinen ersten Fall mit Hilfe eines Professors für Semiotik lösen.
Das ist das Problem mit Knots and Crosses (Verborgene Muster) und einer der Gründe, weshalb es mir heutzutage schwerfällt, das Buch zu lesen – es wurde ganz offensichtlich von einem Studenten der Literaturwissenschaften geschrieben. Rebus liest viel zu viel und zitiert sogar Walt Whitman – einen Schriftsteller dessen Werke er wirklich nicht hätte kennen dürfen. Er ist übertrieben belesen, vielleicht weil ich ihn damals noch gar nicht richtig kannte. Ich war gerade vierundzwanzig und wusste herzlich wenig vom außerakademischen Leben. Ganz bestimmt hatte ich keine Ahnung von der Arbeit eines Polizisten. Aufgrund des Plots von Knots and Crosses musste Rebus ein gestandener Profi sein, und so ließ ich ihn vierzig Jahre alt sein. Er lebte von seiner Frau getrennt und hatte eine kleine Tochter. Er war in so vielerlei Hinsicht anders als ich und ausgerechnet unsere einzige Gemeinsamkeit – die Liebe zur Literatur – ließ ihn alles andere als realistisch erscheinen. Heute kommt es mir so vor, als hätte ich mich gar nicht für Rebus als Person interessiert – er ermöglichte es mir nur, eine Geschichte über Edinburgh zu erzählen und die Tradition des literarischen Doppelgängers fortzuführen. Knots and Crosses war vorsichtig an Jekyll and Hyde angelehnt, ebenso wie ein späterer Rebus-Roman, The Black Book (Verschlüsselte Wahrheit), auf Justified Sinner basierte. Es ist nämlich so: Ich war schon immer eine Art Outsider / Doppelgänger, der der Welt mehrere Gesichter präsentieren will.
Ich wuchs in einer recht rauen Gegend auf, einer Stadt mit 7000 Einwohnern, kaum mehr als ein Dorf mit ein paar umliegenden Farmen − bis man dort zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Kohle entdeckte. Damals zog mein Großvater mit seiner Familie in den Osten des Kohlereviers von Lanarkshire. Rasch wurden billige Häuser für die neue Arbeiterschaft gebaut. Nicht einmal für Straßennamen war genug Zeit, sie wurden durchnummeriert. Mein Dad, der Jüngste von sieben Geschwistern, arbeitete nicht unter Tage, aber alle seine Brüder. Als ich auf die Welt kam, wurde die Kohle schon wieder knapp. Eines Tages blieb die Hupe stumm, die den Beginn der neuen Schicht ankündigte, und das war’s. Nicht, dass ich viel davon mitbekommen hätte, ich war zu sehr damit beschäftigt, mein eigenes Leben in meinem Kopf zu führen. Darin befand sich eine andere Welt – eine phantastische Welt voller Raumschiffe, Soldaten und aufregenden Abenteuern. Im Winter stellte ich mir vor, mein Bett sei ein Lager in der Arktis – was gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt war. Geheizt wurde nur unten im Wohnzimmer, und wenn ich in den Wintermonaten morgens aufwachte, hatte sich auf der Innenseite meines Fensters ein dünner Eisfilm gebildet. Doch in meiner noch jungen Phantasie kam mir selbst das Eis eigenartig und wunderbar vor. Ich lag mit einer Taschenlampe und einem Riesenstapel Comics – britischen und amerikanischen - unter dicken Decken. Schon bald zeichnete ich meine eigenen, faltete Blätter zusammen und schnitt die Kanten auf, sodass kleine achtseitige Hefte entstanden, in die ich malte und kritzelte – immer mehr Raumschiffe und Soldaten. Ich glaube mich erinnern zu können, wie ich meiner Mutter eines meiner Werke zeigte und sie einigermaßen verstört reagierte. Vielleicht hatte sie etwas entdeckt, das mir verborgen geblieben war – möglicherweise einen Mangel an künstlerischem Talent.
Nicht dass das eine Rolle gespielt hätte, denn im Alter von zwölf Jahren verlegte ich mich bereits von Comics auf Musik. Ich kaufte mir die Singles aus den Charts und las Musikzeitschriften. Poster schmückten die Wände meines Zimmers. Der ältere Bruder eines Freundes öffnete mir die Ohren für Frank Zappa, Jethro Tull und Led Zeppelin. Meine Mutter erklärte sich bereit, mir ein Hendrix-Album zum Geburtstag zu schenken, auch wenn das bedeutete, dass sie den gefürchteten „Hippie“-Plattenladen in Kirkcaldy betreten musste. Und wie bei den Comics wollte ich irgendwann nicht mehr nur unbeteiligter Beobachter sein – ich wollte meine eigene Band gründen und erfand deshalb auf dem Papier, was im wahren Leben nicht möglich war. Mein Alter-Ego war der Sänger Ian Kaput, der mit dem Gitarristen Blue Lightning und dem Bassisten Zed ‚Killer’ Macintosh (sowie einem Schlagzeuger, dessen Doppelnamen mir gerade entfallen ist) Musik machte. Die Gruppe hieß The Amoebas. Am Anfang spielten sie Drei-Minuten-Popsongs, gingen aber irgendwann zu Prog-Rock über. Ihr Meisterstück dauerte sechsundzwanzig Minuten und hieß „Continuous Repercussions“ – ich war die ganze Zeit dabei, schrieb Texte, entwarf Plattencover, plante Welttourneen und Fernsehauftritte. Jede Woche erfand ich eine Top-Ten-Liste – für Alben und Singles – und musste mir deshalb jede Woche auch neun weitere Gruppen ausdenken ... So ging es immer weiter.
Heute ist mir bewusst, dass ich damals „Gott spielte“, mir meine Welt neu erfand und sie aufregender und interessanter gestaltete als die Realität. Etwas, das alle Schriftsteller machen, und allmählich begann ich, mich wie einer zu fühlen. Meine Eltern waren keine großen Leser, und zu Hause gab es nur wenige Bücher, trotzdem zogen mich Geschichten magisch an. Ich durchstöberte die Stadtbibliothek und lieh schon bald „erwachsene“ Bücher aus, Bücher, deren Verfilmungen ich im Kino noch gar nicht sehen durfte. Im Alter von dreizehn Jahren las ich Mario Puzos Der Pate und A Clockwork Orange von Anthony Burgess. Mit vierzehn Einer flog über das Kuckucksnest. Auch die Shaft-Bücher von Ernest Tidyman bekam ich in die Finger (und gab Rebus später den Vornamen John als kleine Hommage an den „schwarzen Schnüffler“ John Shaft). Ich durchforstete das Fernsehprogramm auf der Suche nach Büchersendungen, sah sie mir an und beschloss danach, ich müsse unbedingt diesen Solschenizyn lesen (ich quälte mich durch den zweiten Band von Der Archipel Gulag). Ich scheiterte an Dantes Inferno, fand aber den ersten Erzählband von Ian McEwan ziemlich spannend. Englisch war mein bestes Fach in der Schule. Aufsätze schrieb ich schon immer gerne (im Prinzip waren das ja Kurzgeschichten). Einer hieß „Paradox“ und handelte von einem Mann, anscheinend dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der, wie sich später herausstellte, tatsächlich Patient einer Irrenanstalt war. Meinem Lehrer gefiel die Geschichte, doch er fragte sich, weshalb ich mich für diesen Titel entschieden hatte. Das sei der Titel eines Songs von Hawkwind, erklärte ich, mir habe einfach der Klang und das Aussehen des Wortes gefallen. „Und, nein Sir, ich habe keine Ahnung, was es bedeutet.
Für einen anderen Text bekamen wir folgenden Satz vorgegeben: „Dunkel waren sie und golden ihre Augen“. Ich schrieb über Eltern, die ihren abtrünnigen Sohn in einem Haus voller Junkies suchten. Worte waren meine Leidenschaft. Ich löste Kreuzworträtsel, blätterte im Wörterbuch, merkte mir interessante neue Begriffe (nach dem oben erwähnten Wortwechsel auch „paradox“). Und aus den Songtexten der Amoebas wurden Gedichte, wovon ich eines bei einem landesweiten Preisausschreiben einreichte. Es hieß „Euthanasia“ (ein weiteres großartig klingendes Wort), und ich wurde Zweiter. Als mein Erfolg in der Lokalzeitung Erwähnung fand, erfuhren auch meine Eltern erstmals, dass ich Gedichte schrieb. Bis dahin hatte ich mich nicht getraut, jemandem davon zu erzählen (auch Muriel Sparks erste Veröffentlichung war ein preisgekröntes Schulgedicht ...).
Als Chamäleon war ich immer erfolgreich gewesen, hatte so getan, als würde ich dazugehören. Ich hing mit den harten Jungs an Straßenecken ab. Spielte (schlecht) Fußball und fuhr Fahrrad. Aber wenn es zu einer Schlägerei kam, stand ich immer am Rand und beobachtete alles genau, ohne mich einzumischen. Wieder zu Hause ging ich direkt in mein Zimmer und schrieb Gedichte über Prügeleien, Alkohol und die ersten sexuellen Erfahrungen. Anschließend ließ ich mein Notizbuch wieder unterm Bett verschwinden, verborgen vor den Blicken anderer.
„Ich möchte nichts lieber werden als Finanzbuchhalter“
Okay, inzwischen bin ich also siebzehn Jahre alt und möchte nichts lieber als Finanzbuchhalter werden. Sie müssen wissen, dass in meiner Familie niemand die Universität besucht hat, aber anscheinend hab ich was in der Birne, deshalb wird von mir erwartet, dass ich hingehe. Wenn man aus der Arbeiterklasse kommt, geht man zur Uni, um den eigenen Wurzeln zu entkommen – um einen ordentlichen Beruf zu erlernen: Arzt, Anwalt, Zahnarzt, Architekt ... Ich hatte einen Onkel in England, der ein eigenes Haus (anders als meine Eltern) und einen schicken Wagen besaß (meine Eltern hatten nicht mal einen Führerschein). Unsere Sommerferien verbrachten wir an der englischen oder schottischen Küste, oft auch in einem engen Wohnwagen keine zwanzig Meilen nördlich meiner Heimatstadt. Mein Onkel dagegen schien ständig sonnengebräunt von irgendeinem Auslandsurlaub zurückzukehren. Er war der erfolgreichste Mann, den ich kannte, und ich wollte genauso sein wie er.
Das Problem war nur: Wirtschaftslehre war nicht gerade meine Stärke. Stattdessen zogen mich Bücher und das Schreiben immer mehr in ihren Bann. Ich hatte bereits zwei „Romane“ hingelegt (ungefähr zwanzig Seiten lang, in Schmierhefte notiert, die ich aus der Schule geklaut hatte). Der erste handelte von einem Teenager, der sich missverstanden fühlt, von zu Hause abhaut und in London landet, wo ihm das Leben so sehr zusetzt, dass er schließlich Selbstmord begeht. Der zweite war eine Neufassung von Der Herr der Fliegen, die in meiner eigenen Schule spielte. Allmählich dämmerte es mir: Was hatte ich mir nur dabei gedacht, ein Fach studieren zu wollen, das mich überhaupt nicht interessierte? Ich eröffnete meinen Eltern die Neuigkeit und sah, wie sie die Schultern hängen ließen. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits Ende fünfzig und nicht mehr weit vom Ruhestand entfernt. Was, fragten sie mich, wollte ich mit einem Abschluss in Englisch denn anfangen? Eine berechtigte Frage. „Lehrer werden“, war alles, was mir dazu einfiel. Ich fing an, mir alle möglichen Universitäten anzusehen. St Andrews lag am nächsten, aber ich stand auf moderne amerikanische und britische Romane, und John Milton war das „modernste“, was St Andrews zu bieten hatte. Das wusste ich, denn ich hatte nachgefragt. In Edinburgh allerdings gab es ein Seminar zur amerikanischen Literatur, also bewarb ich mich dort und wurde tatsächlich angenommen.
Wie gut kannte ich die Stadt? So gut wie gar nicht. Ich hatte mein gesamtes Leben nur zwanzig Meilen weiter nördlich verbracht, aber die Familie war selten so weit gekommen. Ich erinnere mich, dass wir eine Theateraufführung von Peter Pan besuchten und meine Mutter einmal mit mir zur Burg und in ein Museum für Kinder ging. Während meiner beiden letzten Schuljahre machte ich gelegentlich samstagnachmittags Ausflüge mit Freunden dorthin. Aber wir hielten uns immer an denselben Ablauf, gingen in alle verfügbaren Plattenläden, einen radikalen Buchladen (wo man Pornos im Regal für ‚Kunstbände’ durchblättern konnte) und zwei Pubs, deren Angestellte uns nicht für so minderjährig hielten, als dass sie ein Problem damit gehabt hätten. Im Oktober 1978 als Student in die Stadt zu ziehen war beängstigend und aufregend zugleich. Von der Universität hatte ich keine Unterkunft gestellt bekommen und teilte mir deshalb mit einem Schulfreund ein Motelzimmer am Stadtrand. Schon bald trat ich der Poetry Society und der Film Society bei; genauso bald entdeckte ich neue Pubs, Musikclubs und Striplokale. Außerdem wurde ich Mitglied einer Punkband (als Sänger und Texter) und hatte damit endlich Abnehmer für meine Verse gefunden. Und ich bekam zahllose Ablehnungsschreiben von Zeitschriften und Zeitungen geschickt.
Die Poetry Society traf sich einmal wöchentlich. Hormonell verwirrte junge Männer (die Lyriker schienen alle männlich zu sein, das Publikum setzte sich dagegen zur Hälfte aus Männern, zur anderen Hälfte aus Frauen zusammen) trugen Oden an die verlorene Liebe, die unerwiderte Liebe, die Liebe in der Ferne vor. Meine Gedichte waren anders. Eine typische Anfangszeile lautete:
Mutierte Maschinengewehre patrouillieren durch Unterführungen
Klebstoffschnüffelnde Kids erhängen sich in Lichtschächten...
Ein anderes Gedicht trug den Titel „Strappado“ (eine Form der Folter), ein weiteres erzählte die bewegende Geschichte eines Mannes, der seine junge Ehefrau in den Flitterwochen erdrosselt. Woher kam das? Warum schrieb ich Texte über Süchtige, Mörder und Kreuzigungen? Es gibt nichts in meiner frühen Kindheit, das dieses offenkundige Interesse am Bizarren und Dämonischen erklärt. Ich dachte mir sogar ein Alter Ego aus, einen Landstreicher namens Kejan, der in verschiedenen Gedichten auftauchte, meist in Paris Absinth trank oder durch das Rotlichtviertel Alexandrias streifte:
Die Leiche eines Fremden im Blutkreislauf von Bern,
Kejan kippt die Tabakreste Aus dem Päckchen aufs Papier,
Sein Atem fegt die Krümel
Zu Boden
Sie zucken in der Zugluft.
Wahrscheinlich muss ich nicht ausdrücklich erwähnen, dass mir all das nicht half, Mädchen ins Bett zu bekommen. Dafür lernte ich jede Menge „echte“ Schriftsteller kennen – zum ersten Mal in meinem Leben. Die Poetry Society hatte ein Budget, das es uns erlaubte, jede Woche einen professionellen Dichter zu einer Lesung einzuladen. Danach gingen wir gemeinsam noch einen (oder auch mehr als einen) trinken, wobei uns die Dichter ihre Werke und Flugschriften andrehen wollten und wir ihnen im Gegenzug Fragen stellten, wie zum Beispiel: „Wie schaffe ich es, veröffentlicht zu werden?“ Schon bald erfuhr ich, dass die meisten Dichter nicht von ihrer Kunst leben konnten und ihr Einkommen mit anderen Tätigkeiten aufstocken mussten. Ich fragte mich, ob das auch für Romanautoren galt.
Meine Gedichte waren vom Wordsworth’schen Ideal der „In Ruhe erinnerten Emotion“ weit entfernt. Es waren Erzählungen. Die Figuren begaben sich an bestimmte Orte, taten bestimmte Dinge, woraufhin ihnen allerhand wiederfuhr. Ihre Handlungen hatten stets Folgen. Ich begann unter dem Einfluss von Ian McEwan, Jayne Anne Phillips und allen anderen, deren Bücher ich damals gerade las, Kurzgeschichten zu schreiben. Ich versuchte zweierlei herauszufinden: erstens, worüber ich schreiben wollte und zweitens, wie man schreibt. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass mich das, worüber ich wirklich schreiben wollte, bereits umgab, mich auf allen meinen Wegen begleitete, bei jedem Atemzug. Es war Edinburgh selbst.
„Edinburgh ist eine gequälte, eine ruhelose Stadt“
Edinburgh ist eine gequälte, eine ruhelose Stadt. Jahrhunderte lang ließ sie die Erinnerung nicht los, dass sie einst, bevor sie diesen Status an London abtreten musste, eine blühende Metropole war. Es ist eine Stadt voller Geistergeschichten. Auf den Friedhöfen wimmelt es nur so vor Gespenstern, und es gibt unzählige kleinere Straßen, Tunnel und Höhlen direkt unter dem Erdboden. Eine Stadt, die sich vor der Welt versteckt. Wenn in der Vergangenheit Eindringlinge kamen, eilten die Einwohner unter die Erde und tauchten erst wieder auf, wenn die siegreiche Armee die vermeintliche Geisterstadt in Besitz genommen hatte und völlig erschöpft war. Die Stadt, wie sie die Touristen zu sehen bekommen, ist auch heute noch weit von der ganzen Wahrheit entfernt. Edinburgh ist die Heimat blutiger Geschichten. Burke und Hare waren Serienmörder, die sich als Grabräuber ausgaben und mindestens siebzehn Menschen töteten, bevor sie gerichtet wurden (aus Burkes Haut wurden Souvenirs gefertigt, die teilweise noch heute in den Museen der Stadt zu sehen sind).
Andere Geschichten handelten von angesehenen Bürgern, die sich der Teufelsanbetung bekannten, von Kutschen, die von Kopflosen gelenkt wurden, hingerichteten Covenanters und brennenden Hexen. Nachts stahl sich der junge Robert Louis Stevenson aus dem Haus und traf sich mit Dirnen, Dichtern und Herumtreibern in den zwielichtigsten Kaschemmen, die er finden konnte ...
Je mehr ich mich in Edinburgh umsah, umso mehr lernte ich. Die Stadt ist geographisch zweigeteilt – in die labyrinthische Altstadt südlich der Princes Street und die sachliche, elegante Neustadt im Norden. Die Ausflüge, die der junge Stevenson vom einen Teil in den anderen unternahm, entsprachen der Verwandlung des Dr. Jekyll in Mr Hyde. Aber war dieses Edinburgh tatsächlich eines der Vergangenheit? Nicht wirklich. Im Oktober 1977, ein Jahr bevor ich als Student dort hinzog, waren zwei junge Mädchen verschwunden. Zuletzt hatte man sie in einer Bar namens The World’s End gesehen. Am nächsten Morgen fand man ihre Leichen. Über zwei Jahrzehnte blieben die Mörder unentdeckt. Die Studenten in Edinburgh wussten, dass es da draußen tatsächlich einen „schwarzen Mann“ gab; wir brauchten keine touristischen Gruselrundgänge oder ähnliches, um zu schaudern.
Das Edinburgh der Gegenwart und das der Vergangenheit prallten in meiner Phantasie aufeinander. Ich lebte in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, las aber über die Geschicke von Miss Jean Brodie (der Roman spielt in den dreißiger Jahren während der großen Wirtschaftskrise), Dr. Jekyll und Mr Hyde und des Justified Sinner. Das Edinburgh, das ich nachts durchstreifte, schien sich kaum verändert zu haben. Es gab ein Heroinproblem, Wohnungsnot, und auch HIV tauchte bereits am Horizont auf. Zwischen den beiden Fußballclubs der Stadt herrschte eine erbitterte Rivalität, die sich am Wochenende gewaltsam Bahn brach. Go-go-Bars wichen allmählich den Lap-dance-Bars; wir alle wussten, dass es in Leith einen Rotlichtbezirk gab und dass die Saunen oft mehr waren, als es den Anschein hatte.
Inzwischen hörte ich viel Musik, die später als „Goth“ bezeichnet wurde – Throbbing Gristle, Joy Division und The Cure. Meine Phantasie wurde immer düsterer. Ich schlief bis Mittags und blieb bis vier Uhr morgens wach. Ich schrieb, las, schrieb, las und schrieb immer weiter. Meine Kurzgeschichten trugen Titel wie „Das Leiden“, „Geständnis“, „Die Vergewaltigung des Mr Paton“, „Schwein“ und „Isolation“. Ich hatte meinen Abschluss in der Tasche, wollte aber noch über Muriel Spark promovieren. Ihre Geschichten steckten voller übernatürlicher Elemente, Gruselszenarien, derber Satire und Gemeinheiten. Gleichzeitig war sie eine solch elegante, feinsinnige und präzise Autorin, dass ihre Kritiker die unter der schimmernden Oberfläche ihrer Prosa liegende Dunkelheit häufig gar nicht zur Kenntnis nahmen. Ich lernte von ihr.
Eines Tages erhielt ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb der Zeitung The Scotsman den zweiten Preis gewonnen hatte. Die Geschichte wurde gedruckt, und ich bekam ein bisschen Geld. Sie hieß „The Game“, und es ging darin um den letzten Tag einer Schiffsbauwerft (keine Ahnung, wie ich darauf kam). Ungefähr zur selben Zeit nahm die Zeitschrift New Edinburgh Review eine andere Geschichte von mir zur Veröffentlichung an. Zwei weitere wurden von der BBC im Radio gesendet. Eine Geschichte über einen Streifenpolizisten im Einsatz bei einem Fußballspiel sollte als Teil einer Anthologie unter dem Titel New Writing Scotland erscheinen. Im August 1984 gewann ich den Kurzgeschichtenwettbewerb eines Lokalsenders. Peter Ustinov überreichte mir meinen Preis. Verflucht noch mal, dachte ich. Anscheinend war es nur noch eine Frage der Zeit bis mein erster Roman einen Verleger finden würde.
Ah, mein erster Roman. Er hieß Summer Rites und war eine schwarze Komödie über ein Hotel in den schottischen Highlands. Er fand keinen Verleger, aber ich saß sowieso längst an meinem nächsten Buch, The Flood. Ich hielt mich an das Diktum, man solle über das schreiben, was man kennt und ließ die Handlung in meiner (kaum veränderten) Heimatstadt spielen. Der Roman fand tatsächlich einen Verlag, einen kleinen Betrieb in Edinburgh, in dem zweihundert Hardcover-Ausgaben und vielleicht siebenhundert Taschenbücher gedruckt wurden, von denen die meisten nicht verkauft, sondern später eingestampft wurden. In derselben Woche, in der ich den Vertrag für The Flood unterschrieb, hatte ich die Idee für einen weiteren Roman –diesmal sollte er in Edinburgh spielen, dem Edinburgh derSchauergeschichten, die ich an der Universität las,allerdings in der Gegenwart. Und die Hauptfigur?„Männlicher Held (Polizist?)“
Am 19. März 1985 notierte ich in mein Tagebuch: „Ich habe noch nichts davon aufgeschrieben, aber von der ersten bis zur zirka zweihundertfünfzigsten Seite habe ich alles im Kopf“. Am 24. März schrieb ich die ersten vier Seiten und gab dem Roman den Arbeitstitel Knots and Crosses (Verborgene Muster). Am 4. Juli war der erste Entwurf fertig, doch aus irgendeinem Grund fing ich erst am 18. September mit dem zweiten Entwurf an. Ich hatte gerade die ersten überarbeiteten Seiten ins Reine getippt, als mein damaliger Mitbewohner Jon Curt vorschlug, das Pub zu besuchen, in dem er arbeitete. Es hieß The Oxford Bar: „Wunderbar ungekünstelt und bis zwei Uhr morgens geöffnet.“ Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis die Oxford Bar in einem Rebus-Roman auftauchte (ich glaubte, Bars, Straßen etc. müssten in einem fiktionalen Werk auch fiktional sein), aber ich war froh, sie kennengelernt zu haben.
All das scheint mich der Lüge zu überführen. Jahrelang habe ich behauptet, ich hätte Knots and Crosses in der Arden Street geschrieben, direkt gegenüber der Wohnung, in der Rebus bis heute wohnt. Ich war im Sommer 1985 aus der Arden Street aus- und zu zwei Studenten (Jon war einer davon) ans andere Ende der Stadt gezogen. So gesehen ähnelt Knots Jekyll and Hyde noch stärker, da es zum Teil südlich der Princes Street, zum anderen Teil nördlich derselben entstanden ist.
Weil mein Roman The Flood einen Verlag gefunden hatte, hatte sich eine Agentin gemeldet und gefragt, ob ich an weiteren Büchern arbeitete. Sie schlug vor, Knots and Crosses an fünf Londoner Verlage zu schicken: Bodley Head, Collins, Century Hutchinson, Andre Deutsch und William Heinemann. Schließlich hielt nur einer die Daumen hoch – Bodley Head. Aber mehr brauchten wir nicht, und ich war umso begeisterter, da ich nun bei demselben Verlag gelandet war, wie Muriel Spark ... zumindest kurzzeitig.
Mein letzter Tagebucheintrag des Jahres 1985 endete: „Jahr um Jahr, es geht immer besser.“
Als das Buch am 19. März 1987 endlich erschien, musste ich allerdings feststellen, dass es offenbar noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt bekam, als sein Vorgänger. Bei Bodley Head gab es keinerlei Budget für Werbung, deshalb wurden weder Anzeigen geschaltet, noch Interviewtermine mit Zeitungen oder Zeitschriften vereinbart. Das Buch kam und ging, ohne dass jemand etwas davon mitbekommen hätte. Nicht einmal für den First-Novel-Award der Crime Writers’ Association wurde ich nominiert (Denis Kilcommons gewann in jenem Jahr), wurde aber immerhin gefragt, ob ich der DWA beitreten wolle. An diesem Punkt begriff ich die schreckliche Wahrheit: Ich hatte einen „großen schottischen ‚neo-gothic’ Schauerroman“ schreiben wollen und war dabei zum Krimiautor geworden. Nicht dass mich diese Feststellung allzu viel Schlaf gekostet hätte. Ich hatte mich von der Figur Rebus läauml;ngst wieder verabschiedet und saß an einem Spionagethriller mit dem Titel
Watchman. Es sollte weitere ein bis zwei Jahre dauern, bis sich mein Lektor räusperte und fragte, was eigentlich aus John Rebus geworden sei: „Ich mochte ihn, und ich glaube, du könntest mehr mit ihm anstellen.“ Sich zu räuspern war wohl seine Art mir beizubringen, dass er für The
Watchman keineswegs bessere Verkaufszahlen erwartete, als für
Knots and Crosses, und dass das Krimigenre vielleicht doch noch einen weiteren Versuch wert sei.
Diese verlegerischen Überlegungen waren, rückblickend betrachtet, von unschätzbarem Wert, aber auch die Götter schienen es gut mit Rebus zu meinen. Ein Fernsehproduzent hatte Interesse am ersten Roman gezeigt. Er hatte mit einem Schauspieler (der für seine Rolle in einer beliebten Soap bekannt war) eine neue Firma gegründet, und nun suchte er nach einem vielversprechenden Projekt. Wäre etwas daraus geworden, hätte man den Schauplatz nach London verlegt (passend zum englischen Akzent des Schauspielers), was das Ende meiner Schöpfung bedeutet hätte. Meine Agentin verschwand mitten in den Verhandlungen, und der Deal verlief im Sande. (Keine Angst, ein paar Jahre später tauchte sie wieder auf.)
Mit
Hide and Seek (Das zweite Zeichen) bekam Rebus eine zweite Chance. Im Titel steckt der Name Hyde – tatsächlich lautete der Arbeitstitel
Hyde and Seek. Auf diesen ließ ich einen Roman folgen, in dem ich Rebus nach London verschleppte – wo ich damals lebte –, nur damit er es genauso hasste wie ich. Doch zu diesem Zeitpunkt war alles längst zu spät: Nach drei Büchern hatte ich bereits eine Serie erschaffen. Und so lange Inspector Rebus sich als geeignetes Vehikel für meine Streifzüge durch das Schottland der Gegenwart erwies, so lange wollte ich die Reihe fortsetzen. Ich hoffte nur, dass sich irgendwann auch Leser dafür finden würden.
„Rebus kam aus meinem Unterbewusstsein“
Also woher kam Rebus nun eigentlich? Tja, offensichtlich aus meinem Unterbewusstsein, aus dem Gehirn eines jungen Mannes, das voller Geschichten steckte. Aber auch aus den Büchern, die ich las, aus der Stadt, die nun meine Heimat war und dem Blut, das deren Gehwege und Straßen tränkte. Trotzdem kommt es mir so vor, als sei er wie ein Blitz aus heiterem Himmel gefahren. Ich habe Fotos von mir in meinem Zimmer in der Arden Street gesehen, über meinen Tagebüchern aus der Zeit gebrütet und nach Hinweisen gesucht. Die Notizen, die ich mir machte, bevor ich mit dem Schreiben begann, bringen nur wenig Licht ins Dunkel. Ich betrachtete das Buch als „metaphysischen Thriller“, verwandte aber sehr wenig Zeit darauf, die Figur Rebus zu skizzieren. Die Geschichte sollte viele „Rätsel und Wortspiele“ enthalten, es sollte ein „sehr visuelles Werk“ werden, und ich beschloss, es müsse in der dritten Person erzählt werden: „Nicht zu tief in die Gedanken der Hauptfigur einsteigen“. Rebus sollte eher eine Chiffre sein, als ein dreidimensionaler Mensch.
Nachdem ich
Knots and Crosses noch einmal gelesen habe, denke ich, man kann behaupten, der Leser halte dort einen sehr viel größeren Abstand zu Rebus als in allen folgenden Romanen. Und das hatte einen guten Grund: Ich wollte, dass der Leser Rebus als möglichen Verdächtigen im Kopf behält. Daher auch die Flashbacks, die Andeutungen auf schreckliche Geschehnisse in der Vergangenheit und das „verschlossene Zimmer“ in seiner Wohnung. An einer anderen Stelle ist er kurz davor, eine Frau zu erwürgen, die ihn in ihr Bett gelassen hatte.
Na toll.
Durch reine Willenskraft aber blieb er dabei und wurde zu einer voll ausgestalteten Figur, was so weit geht, dass sich Fans heutzutage um seine Gesundheit sorgen und enttäuscht sind, wenn sie mir begegnen, weil ich mit Rebus nicht mithalten kann – ich bin nicht so kaputt wie er, nicht so komplex, und es ist auch längst nicht so riskant, sich in meiner Nähe aufzuhalten. Ich bin nur der Typ, der Rebus’ Geschichten zu Papier bringt. Mir war allerdings schnell bewusst, dass ein Detektiv einen hervorragenden Kommentator zur Lage der Welt abgibt. Er hat Zugang zu den Mächtigsten und den Ärmsten des Landes, zu Politikern und Herrschenden, ebenso wie zu Junkies und Kleinkriminellen. Indem ich Bücher über Edinburgh schrieb, konnte ich die Stadt (und die Nation, deren Hauptstadt sie wieder ist) von oben nach unten durch Rebus’ Augen unter die Lupe nehmen. Und ich hatte Glück – es gab keine Krimitradition in Schottland, deshalb stand es mir frei, meinen eigenen Weg zu gehen. Damals gab es keine Kriminalromane, die im Edinburgh der Gegenwart spielten, was bedeutete, dass ich eine ganze Weile lang keinerlei Konkurrenz hatte. Außerdem hatte ich insofern Glück, als sich Edinburgh und Schottland weiterhin auf interessante Weise veränderten, mir zahlreiche Plots boten, Geheimnisse und Mysterien aber nur sehr allmählich preisgaben.
Ich lebe jetzt seit fast dreißig Jahren in dieser Stadt (mit kleinen Unterbrechungen) – und sie hört nicht auf, mich in Erstaunen zu versetzen. Immer noch werden unterirdische Gänge und Kammern entdeckt. Archäologische Ausgrabungen an der Burg bringen neue Wahrheiten ans Licht. Längst vergessene Ausstellungsstücke in diversen Museen haben, wie sich plötzlich herausstellt, ganz eigene erzählenswerte Geschichten zu bieten. Die Stadt scheint als Thema unerschöpflich. Schließlich ist es eine Stadt der Wörter. Wo sonst in der Welt wurde ein Hauptbahnhof nach einem Roman benannt (Waverley) und dessen Autor ein riesiges Denkmal in der Innenstadt gewidmet (das Scott Monument)? Robert Louis Stevenson erfüllte seine Heimatstadt mit Phantasie. Arthur Conan Doyle wurde hier geboren. Muriel Spark wuchs hier auf. Robert Burns machte sich hier seinen Namen. J. M. Barrie studierte hier. Nicht zu vergessen, Carlyle und Hume, bis hin zu J.K. Rowling, Irvine Welsh und Alexander McCall Smith in der Gegenwart.
Auch Rebus setzt sich aus Wörtern zusammen – Millionen von Wörtern –, man sollte also meinen, dass ich inzwischen dahinter gekommen sein müsste, wie er tickt, aber er überrascht mich immer wieder, was durchaus zu einem Mann passt, dessen Name „Rätsel“ bedeutet. Seit zwanzig Jahren nun wohnt er schon in meinem Kopf, aber manchmal kommt es mir so vor, als würde ich in seinem wohnen. Als mich vor einiger Zeit einmal ein Psychoanalytiker auf einem Literaturfestival interviewte, fragte er mich, ob Rebus stellvertretend für den Bruder stehe, den ich nie hatte, oder möglicherweise auch für das abenteuerliche Leben, das ich mir selbst nie zugestehen würde. Meine Eltern hatten beide im Zweiten Weltkrieg gedient (mein Vater in Ostasien).Eine meiner beiden Schwestern heiratete einen Ingenieur der Royal Air Force und reiste den Großteil ihres Lebens durch die Weltgeschichte. Als Kind schrieb ich einmal an die Armee und bat um Informationen, wie man ihr beitreten könne. Aber ich war eindeutig ein Bücherwurm, und alle meine Abenteuer fanden in meinem Kopf statt. Vielleicht lag der Psychoanalytiker gar nicht so falsch; vielleicht ist Rebus tatsächlich eine Verlängerung meiner eigenen Persönlichkeit – er macht die gefährlichen Sachen, vor denen ich zu viel Angst habe, verstößt gegen die Vorschriften und Gepflogenheiten, gerät in Auseinandersetzungen und Handgreiflichkeiten, und manchmal wird es durchaus auch lebensgefährlich. Ein paar Literaturwissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass Dr. Jekyll and Mr. Hyde vom kreativen Prozess selbst handelt, von der Trennung zwischen unserem rationalen Geist und den dunkleren Phantasien, die wir vor der Welt verbergen. In dem Fall wäre Rebus mein Hyde, der sich wie eine Naturgewalt benimmt, das Unsagbare ausspricht und Dinge tut, zu denen ich mich nie überwinden könnte – obwohl ich es mir sehr wohl vorstellen kann, sie zu tun.
Sir Winston Churchill bezeichnete Russland einmal als „ein als Geheimnis getarntes Rätsel innerhalb eines Mysteriums“. Ich habe festgestellt, dass dasselbe auch für Schottland und Edinburgh gilt. Und für Detective Inspector John Rebus.
Rebus’ Rückkehr
Detective Inspector John Rebus ging 2007 in Rente, weil ich in einer Zwangsjacke steckte, woran ich selbst schuld war. Relativ zu Beginn der Serie hatte ich beschlossen, Rebus in Echtzeit altern zu lassen, zumindest annähernd. Dadurch konnte ich die Veränderungen der Stadt Edinburgh und der schottischen (und britischen) Gesellschaft einbeziehen, ohne dass meine Hauptfigur abnormal wirkte, weil sie selbst niemals älter wurde, sich nie veränderte.
Ein ehemaliger Polizist und Freund machte mich schließlich darauf aufmerksam, dass Detectives in Schottland mit sechzig Jahren verbindlich in den Ruhestand treten müssen. Ich rechnete nach. 1987 begegneten wir Rebus zum ersten Mal, damals war er vierzig.
Exit Music (Ein Rest von Schuld), das 2007 erschien, musste daher seine Abschiedsvorstellung sein. Der Grund war nicht, dass ich Rebus über hatte oder mir nichts Neues mehr zu ihm einfiel – ganz im Gegenteil. Es gab noch immer Informationen, die er mir vorenthielt, Facetten seiner Persönlichkeit, zu denen ich noch nicht vorgedrungen war. Und trotzdem musste er sich zur Ruhe setzen. Die Nähe zur Wirklichkeit verlangte dies.
Ich dachte über die Konsequenzen nach. Ich hätte in die Vergangenheit eintauchen und über den Mann in seinen Dreißigern und Vierzigern schreiben oder ihn zum Privatdetektiv machen können. Keine dieser Möglichkeiten gefiel mir, ebenso wenig wie Rebus der Ruhestand gefiel. Dann erfuhr ich, dass es in Edinburgh eine kleine Einheit gab, die sich aus drei pensionierten Detectives und einem Officer im aktiven Dienst zusammensetzte. Diese Einheit beschäftigte sich mit den ungelösten Fällen vergangener Jahre. Das war der perfekte Job für Rebus, und ich wusste, wo seine Zukunft lag.
In der Zwischenzeit hatte ich begonnen, mich für einen anderen Zweig der Polizeiarbeit zu interessieren – Innere Angelegenheiten. Das waren Polizisten, die gegen Kollegen ermittelten, und sie wurden so gut wie überall gefürchtet und verabscheut. Sie spionierten und observierten, führten Überwachungsaktionen durch, die teilweise Wochen oder Monate andauerten. Sie waren vorsichtig und gewissenhaft, arbeiteten ausgezeichnet als Team zusammen und durften niemals eine Grenze übertreten oder gegen eine Vorschrift verstoßen. Mit anderen Worten: das absolute Gegenteil von Rebus. Also erfand ich Inspector Malcolm Fox und benannte sein erstes Abenteuer nach der umgangssprachlichen Bezeichnung für die Abteilung für Inneres: The Complaints (Ein reines Gewissen).
Fox wuchs mir ans Herz, und ich beschloss, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, tiefer in seine Psyche und seinen Charakter einzutauchen. Deshalb schrieb ich einen zweiten Roman für ihn, The Impossible Dead (Die Sünden der Gerechten). So weit, so gut, doch auch andernorts standen die Räder nicht still. In Schottland sollte das Rentenalter für Detectives heraufgesetzt werden. Würde Rebus in Versuchung geraten – er arbeitete ja noch immer an ungelösten Fällen –, sich erneut beim CID zu bewerben? Und wenn ja, würden ihn die Kollegen von der Inneren für geeignet halten? Ganz zu schweigen von den vielen Fehltritten, die er sich in seinem Leben geleistet hatte – würden ihm diese zum Verhängnis werden, wenn einer wie Malcolm Fox erst einmal anfing, nach Fehlern zu suchen?
Rebus’ Rückkehr erlaubte mir darüber hinaus Fox aus einer anderen Perspektive zu zeigen – nicht als Helden, sondern fast als Bösewicht, seine Rechtschaffenheit und seine rigiden Moralvorstellungen stehen dem Rebellen Rebus ständig im Weg.
In den vergangenen Jahren hatten meine Leser viele Fragen an mich. So sehr sie Fox und sein Team mochten, so sehr verlangten sie doch nach Rebus, seiner Kollegin Siobhan Clarke und seinem Gegenspieler Cafferty. Ich hatte daran gedacht, einen Roman entweder mit Clarke oder Cafferty als Hauptfigur zu schreiben, doch dann zog es mich wieder zu Rebus, möglicherweise weil das Timing einfach zu gut war.
Rebus trat zum ersten Mal 1987 in Knots and Crosses auf, was bedeutete, dass er 2012 sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feierte. Alles passte perfekt. Ich brauchte nur noch einen Plot – und davon hatte ich bereits genug. Ich wollte mir ansehen, was passiert, wenn jemand verschwindet. Können Familien oder Freunde jemals vergessen, oder gelingt es ihnen wenigstens, ihr Leben weiterzuführen? An welchem Punkt interessieren sich die Behörden dafür, und wann verlieren sie das Interesse? Ich begann eine Geschichte zu erfinden, brachte weitere Elemente hinein – unseren Hang zum Mythischen; die Vorstellung, dass eine Hauptverkehrsstraße ein Eigenleben entfalten kann, das über die Erfahrungen derjenigen, die sich auf ihr bewegen, hinausgeht. Allmählich zeichnete sich etwas ab, und ich gab dem Ganzen einen Titel – Standing In Another Man’s Grave (Mädchengrab).
Ein guter Freund von mir, der Musiker Jackie Leven war unerwartet und viel zu früh gestorben. Wir hatten gemeinsam gespielt, sogar ein gemeinsames Album aufgenommen. Eines Tages hörte ich mir einen seiner Songs an und merkte, dass ich den Text falsch verstand. Während Jackie davon sang „in another man’s rain“ zu stehen, hörte ich das Wort „grave“. So kam es, dass mir Jackie sowohl den Titel des Romans, wie auch dessen Eröffnungsszene schenkte. Zum Dank ist ihm das Buch gewidmet und jedem Abschnitt sind Zeilen von ihm vorangestellt. Wir lernten einander kennen, weil er ein Fan meiner Bücher war, so wie ich seine Musik bewunderte. Danke, Jackie. Du hast mir geholfen, John Rebus neues Leben einzuhauchen. Ich konnte mich aus meiner Zwangsjacke befreien ...
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