Blutschuld - Inspector Rebus 6
Originaltitel: Mortal Causes
Während oben in Edinburgh das Fringe-Festival tobt, wird in den labyrinthischen Gewölben von Mary King’s Close ein Mann mit sechs Kugeln ermordet. Ein in Terroristenmanier verübter Mord, was Inspector Rebus intuitiv aber für die falsche Erklärung hält. Unter Hochdruck fahndet er nach dem Täter, um dessen Leben zu retten – denn der Ermordete ist der Sohn von Unterweltboss ‚Big Ger’ Cafferty. Und ‚Big Ger’ hat bereits blutige Rache geschworen …
Vorwort zu
„Mortal Causes (Blutschuld)“
Ich bin in einem kleinen Bergarbeiterort in Schottland aufgewachsen, weit weg von den „Unruhen“ in Nordirland. Aber als Kind wurde ich jede Samstagnacht von einem Betrunkenen geweckt, der auf dem Weg nach Hause am Ende unserer Sackgasse stehen blieb, um eine unmelodische Darbietung des irisch-protestantischen Kampflieds „The Sash“ zum Besten zu geben. Ich glaube, es ist nie jemand nach draußen gegangen, um sich zu beschweren. Und noch heute frage ich mich: War es immer derselbe Mann? Wer war er? Arbeitete er tagsüber, wenn er nüchtern war, mit katholischen Kollegen zusammen? Und wussten sie von seinem Hass? Existierte dieser Hass überhaupt in seinen Phasen der Nüchternheit, oder stieg er lediglich nach einem langen durchzechten Abend in ihm hoch? In unserer ganzen Straße wohnten nur ein oder zwei katholische Familien. Einer der Jungs war sogar mein bester Freund, bis sich unsere Wege nach der Mittelschule trennten und wir uns allmählich auseinanderlebten.
Meine spätere Frau ist während der schlimmsten Phase der Unruhen in Belfast aufgewachsen. Wir haben uns an der Uni kennen gelernt, und durch sie wurde mir auch Belfast nach und nach vertraut, da wir zwei-, dreimal im Jahr ihre Eltern besuchten. Aber die eigentliche „Seele“ des Konflikts blieb für mich weiterhin schwer fassbar. In vielen Teilen Schottlands ist es schwierig, als Arbeiterkind aufzuwachsen, ohne Partei zu ergreifen. Tatsächlich muss man sich noch nicht einmal bewusst für eine Seite entscheiden – sie ist einem fast vorbestimmt. Jetzt, nach fünf Rebus-Romanen, hielt ich es für an der Zeit, ein paar meiner eigenen Fragen zum Thema Sektiererei und religiöse Spaltung in Schottland in meinem nächsten Buch Angriff zu nehmen. Aber um die Sache interessanter zu machen, sollte die Geschichte vor dem Hintergrund des Edinburgh Festivals spielen. So konnte ich den Schotten gewissermaßen beim Spielen zeigen und damit ein Gegengewicht zu den hässlicheren Seiten unserer internen Konflikte schaffen, die man fast als Stammesfehden bezeichnen könnte.
Zu meinen Lieblingsbeschäftigungen als Autor gehört es, mir Titel auszudenken. Bei meinen bisherigen Büchern war mir das leicht gefallen, aber bei Mortal Causes zerbrach ich mir den Kopf, ohne etwas Passendes zu finden. Ich brauche allerdings eine Überschrift, bevor ich überhaupt anfangen kann zu schreiben. Es war dann meine Frau Miranda, die nach einem längeren Brainstorming und unzähligen verworfenen Vorschlägen auf „Mortal Causes“ kam. Mir gefiel das implizite Wortspiel. Der schottische Dialekt ist reich an farbigen euphemistischen Bezeichnungen für den Zustand des Betrunkenseins: stocious, stotting, guttered, steaming, steamboats, wellied und hoolit sind nur einige davon. Eine weitere ist mortal (wörtlich „tödlich“ oder „sterblich“). Dadurch beschwor der Titel „Mortal Causes“, wie ich fand, ebenso sehr „König Alkohol“ wie natürlich auch weit dunklere, brutalere Vorstellungen („tödliche Ideale“) herauf.
In diesem Buch sollte die Beziehung zwischen Rebus und Edinburghs Obergangster „Big Ger“ Cafferty komplexer werden – eine Idee, die nicht zuletzt von den Matt-Scudder-Romanen des New Yorker Autors Lawrence Block inspiriert war. Ich hatte dessen Bücher während eines sechsmonatigen Aufenthalts in den USA 1992 entdeckt. Es gefiel mir, wie Block das Verhältnis Scudders (ein Exbulle mit einem strengen Moralkodex) zu einem knallharten Gangster namens Mick Ballou beschrieb. Die beiden schienen sich zu verstehen, womöglich sogar zu respektieren, aber wären sie einander ins Gehege gekommen, hätte nur einer die Begegnung überlebt. Wenn Sie Mortal Causes noch nicht gelesen haben, möchte ich Ihnen nicht die Spannung verderben, aber so viel darf ich verraten: Ehe das Buch endet, hat sich das Verhältnis zwischen Rebus und Cafferty entscheidend geändert – und zwar auf eine Weise, die sich auf den ganzen weiteren Verlauf der Reihe auswirken würde.
1990 war ich mit meiner Frau nach Frankreich gezogen, und als ich Mortal Causes schrieb, lebten wir noch immer dort. Ich fuhr mehrmals im Jahr nach Edinburgh, um vor Ort zu recherchieren (und weil es im weiteren Umkreis unseres halb verfallenen Bauernhauses nicht einen einzigen anständigen Pub gab). Dank eines befreundeten Paares namens Pauline und David konnte ich mich 1993 während des Festivals in der Stadt aufhalten. Bei einem früheren Besuch im selben Jahr hatte ich außerdem beschlossen, mir eine Gasse namens Mary King’s Close anzusehen. Ich hatte immer wieder von ihr gehört und wusste, dass man sie nur im Rahmen einer Führung betreten konnte. Mary King’s Close liegt nämlich unter der Erde – unter den City Chambers, um genau zu sein. Heute ist diese Gasse eine beliebte Touristenattraktion, aber damals gab es nur einen Weg, sie zu besichtigen: Man musste einen Antrag bei der Stadtverwaltung stellen und sich anschließend in Geduld fassen, bis einem Tag und Uhrzeit des nächsten Einlasses mitgeteilt wurden.
Am Abend meiner Führung stiegen wir mit einem von der Stadt gestellten Führer etwa zu zehnt in den Untergrund. Das unbeleuchtete Labyrinth von Gassen und Korridoren war zugleich unheimlich und faszinierend. Vor allem ein Raum erschreckte mich mit einer Vielzahl von rostigen Eisenhaken, die von einer weiß getünchten gewölbten Decke herab hingen. Nennen Sie mich pervers, aber ich konnte hier förmlich eine Leiche hängen sehen, und als ich wieder ans Tageslicht kam, wusste ich, dass ich den Anfang meines Romans gefunden hatte. (Tatsächlich hatte ich mich vorzeitig von der Gruppe abgesetzt, um noch ein bisschen auf eigene Faust herumzuschnüffeln: Durchaus möglich, dass man mich noch immer da unten vermutet ...)
Nachdem Mortal Causes erschienen war, erhielt ich einen wütenden anonymen Leserbrief: Ich solle mich schämen, so auf der dunklen Seite des Protestantismus herumzureiten, wo doch jeder wisse, dass die wahren Bösen die Typen von der IRA waren. Die Tirade endete mit dem innigen Wunsch, ich wäre besser bei einem der zahlreichen IRA-Attentate auf der britischen Hauptinsel ums Leben gekommen. Ich hatte das Gefühl, dass der Absender mein eigentliches Anliegen gar nicht begriffen hatte. Aber vielleicht hatte ich mich einfach nicht klar genug ausgedrückt – oder es gab schlicht Leute, die sich ohne Scheuklappen nicht recht wohl fühlen.
Es war insofern ein ungewöhnlicher Brief, als die meisten meiner übrigen Leser eine Frage hatten, die nicht das Geringste mit meiner (angeblichen) Parteinahme im Konfessionsstreit zu tun hatte. Sie wollten wissen, was eigentlich die Pointe des Witzes war. Sollten Sie das Buch noch nicht gelesen haben, werden Sie diese Frage erst am Ende Ihrer Lektüre verstehen. Und wenn Sie die Fernsehspots nicht kennen, mit denen in den Siebzigern für das Spülmittel Fairy Liquid geworben wurde, werden Sie mit der Lösung, die ich Ihnen gleich verrate, auch nicht viel anfangen können. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich mir den Witz nicht ausgedacht habe: Es ist ein echter, realer Nonsens-Witz, den ich von meinem ehemaligen Schulfreund und Kommilitonen George habe. Voilá:
For Hans that does dishes can feel soft as Gervase, with mild, green, hairy-lipped squid. („Denn Hans, der Geschirr spült, fühlt mit dem sanften, grünen, behaartlippigen Tintenfisch ebenso mit wie Gervase.“ Eine Verballhornung des klassischen Werbespruchs für Fairy Liquid, der in Wahrheit lautete: Now hands that do dishes can feel soft as your face, with mild green Fairy Liquid: „Jetzt können sich Hände, die Geschirr spülen, dank des milden grünen Fairy Liquid ebenso weich anfühlen wie Ihr Gesicht“. Anm. d. Übs.)
Sorry.
Ian Rankin
Deutsch von Giovanni und Ditte Bandini