Der kalte Hauch der Nacht - Inspector Rebus 11

Originaltitel: Set In Darkness

In Queensberry House, das demnächst das schottische Parlament beherbergen soll, werden kurz hintereinander zwei Leichen gefunden. Der erste Tote ist bereits mumifiziert, das zweite Opfer wird wenig später erschlagen aufgefunden. Ein dritter Todesfall weist auf einen Zusammenhang zwischen den Leichenfunden hin. Trotz Anfeindungen aus den eigenen Reihen macht sich Inspector John Rebus an die Lösung des Falls – obwohl ihn das nicht nur die Karriere, sondern auch das Leben kosten könnte...

Vorwort zu
„Set In Darkness (Der kalte Hauch der Nacht)“

Serendipity.
Laut Wörterbuch bedeutet dieses Wort: „die Gabe, durch Zufall glückliche und unerwartete Entdeckungen zu machen“. Serendip war der arabische Name für Ceylon oder Sri Lanka. Das Wort soll der britische Staatsmann Horace Walpole geprägt haben, nach dem persischen Märchen „Die drei Prinzen von Serendip“, dessen Titelhelden fortwährend über Dinge stolpern, die sie gar nicht gesucht hatten.

Serendipity.

Das ist eines meiner Lieblingswörter. Mehrere Rebus-Romane verdanken ihre Existenz dieser „Gabe“, unerwartete Entdeckungen zu machen – vor allem The Falls (Puppenspiel) und Set In Darkness. Bei Set In Darkness war es folgendermaßen: Ich war auf Lesereise in den USA. Wieder ein neuer Tag, wieder ein Inlandsflug, diesmal von Philadelphia aus ... Wohin es ging, weiß ich nicht mehr. Da ich nichts zu lesen dabeihatte, griff ich nach dem Bordmagazin. Unter anderem gab es darin einen „Rundgang durch Edinburgh“. Hmm, dachte ich, da wird kaum etwas drinstehen, was ich nicht schon weiß.

Was für ein Irrtum.

Eine der erwähnten Sehenswürdigkeiten war das Queensberry House. Ich wusste, dass es sich am unteren Ende der Holyrood Road befand, nicht weit von der Residenz der Königin und gegenüber von dem Grundstück, auf dem gerade das neue Verlagshaus der Zeitung Scotsman gebaut wurde. Direkt neben dem Queensberry House sollte der Sitz des neuen schottischen Parlaments entstehen. Ich wusste nicht viel über das Gebäude – meinte, es wäre früher eine Kaserne gewesen und in jüngerer Zeit ein Krankenhaus. Früher einmal war das die vornehmste Wohngegend in Edinburgh, aber als in den 1790er Jahren die „Neustadt“ gebaut worden war, hatten viele der wohlhabenderen Bürger die „Altstadt“ verlassen. Etliche der jetzt leer stehenden Gebäude verfielen und wurden schließlich abgerissen. Das Queensberry House war eines der wenigen Überlebenden. Dort hatte der Duke of Queensberry gewohnt, der für den Treaty of Union mitverantwortlich gewesen war, den Einigungsvertrag, der aus Schottland und England das „Vereinigte Königreich“ machte. (Dies hatte ihn in Edinburgh eher unbeliebt gemacht: Einmal wurde er durch die Straßen gejagt und musste in der Kathedrale Zuflucht suchen.)

Dann aber stand in dem Artikel etwas, das ich nicht gewusst hatte: Ein Mitglied der herzoglichen Familie hatte eines Nachts einen der Diener getötet, gekocht und verspeist. Den Bürgern Edinburghs erschien dies wie ein schlechtes Vorzeichen für die „Hochzeit“ mit England. Wieder wurde der Herzog durch die Straßen gejagt.

Ich riss den Artikel heraus, faltete ihn zusammen und steckte ihn ein.

Wieder in Edinburgh, unternahm ich weitere Recherchen und schaffte es, dank eines Bekannten bei Historic Scotland (der Organisation, die die historische Stätte vor ihrem Umbau archäologisch bearbeitete und dokumentierte) eine Führung durch das Queensberry House zu organisieren. Ein Fernsehteam, das einen Dokumentarfilm über meine Arbeitsweise drehen sollte, folgte mir auf Schritt und Tritt – ich kann also notfalls durch Videomaterial beweisen, dass das Folgende nicht lediglich meiner Schriftstellerphantasie entsprungen ist. Unsere private Besichtigungstour näherte sich schon ihrem Ende, als ich eine Bemerkung über den historischen Akt von Kannibalismus fallen ließ. Mein Führer zeigte sich skeptisch.

„Wahrscheinlich ein Schauermärchen für die Touristen“, sagte er.

Aber dann erklang ein Schrei aus dem Untergeschoss. Wir stiegen hinab in die Eingeweide des alten Krankenhauses und gelangten in einen Raum, in dem die Dielen entfernt worden waren. Von einer Wand waren Verputz und Täfelung ebenfalls abgerissen worden, wodurch jetzt ein durch eine Metallplatte verschlossener großer steinerner Bogen zu sehen war.

„Die Küche“, erklärte uns die Frau, die den Schrei ausgestoßen hatte, aufgeregt. Dann klopfte sie auf die Feuerstelle. „Hier hat er wohl den Diener gebraten.“

Sie kannte also die Geschichte. Sie stand, wie sich herausstellte, in mehreren Geschichtsbüchern. Ich fragte, ob wir nicht die Metallplatte entfernen und den Kamin öffnen könnten. Wir konnten – und öffneten die seit Jahrzehnten verschlossene Feuerstelle. Ich leuchtete mit einer Taschenlampe in alle Ecken. Nichts außer Spinnweben natürlich, aber trotzdem ... mir kam allmählich eine Idee. Ich fand es so unglaublich, dass ich von diesem Kamin aus einer Zeitschrift wusste, die ich tausend Fuß über Philadelphia in die Hand genommen hatte, und jetzt genau an dem Tag, an dem er seit langem wieder geöffnet wurde, hier war.

Es war so, als wollte die Geschichte erzählt werden.

Ein ähnliches Erlebnis hatte ich im Zusammenhang mit Mortal Causes (Blutschuld) gehabt, als eine Führung durch die unterirdische Gasse Mary King’s Close, tief unter den City Chambers, mir den Anfang meines Romans beschert hatte. Jetzt sah es so aus, als hätte ich die erste Szene einer neuen Geschichte, und diese Geschichte würde vom neuen Parlament handeln, dem ersten schottischen Parlament seit dreihundert Jahren.

Ich hatte gerade einen Vertrag über drei Bücher abgeschlossen, und ich weiß noch, dass ich mit dem Gedanken spielte, allen drei Romanen ein gemeinsames politisches Thema zu geben. Ich würde ein Mitglied des schottischen Parlaments erfinden. Im ersten Buch würde er für sein Amt kandidieren, im zweiten gewählt werden, und im dritten Buch würde das Parlament seine Arbeit aufgenommen haben. Ich möchte Ihnen, falls Sie Set In Darkness noch nicht gelesen haben, die Spannung nicht verderben, also sagen wir einfach, dass aus diesem Plan nichts wurde: Meine Geschichte hatte andere Pläne. So läuft das eben manchmal: Romanfiguren, denen man eigentlich eine Nebenrolle zugedacht hatte, drängen sich in den Vordergrund; als Hautpersonen konzipierte Gestalten erweisen sich als überflüssig. Jede Geschichte scheint sich selbstständig, aus einer eigenen Logik heraus zu entwickeln – bisweilen ganz gegen die Wünsche des Autors.

Bis zum letzten Buch hatte Rebus vor allem in der Oxford Bar getrunken. In Set In Darkness lasse ich zwar einige reale Stammgäste dieses Pubs auftreten, erlaube Rebus aber auch, andere Bars, wie das Royal Oak und Swany’s, zu besuchen. Nachdem ich nach zehnjähriger Abwesenheit nach Edinburgh zurückgekehrt war, hatte mich ein Buchhändler in Swany’s eingeführt. Als er mich zum ersten Mal dorthin brachte, setzten wir uns mit ein paar seiner Kumpels zusammen, darunter einem Gentleman namens Joe Rebus. Als man mir seinen Namen nannte, brauchte ich wirklich einen Drink. Er meinte, er hätte sich schon immer über den komischen Zufall amüsiert.

„Und hier kommt noch einer“, sagte er. „Ich wohne im Rankin Drive.“

Von serendipity zu reden wäre hier noch stark untertrieben. Joe und seine Angehörigen sind seines Wissens die einzigen Rebusse in ganz Schottland; der Rankin Drive ist eine von drei Straßen in Edinburgh, die denselben Namen wie ich tragen. Wie stehen wohl die Chancen, dass die zwei zusammenkommen? Schon ein geringerer Zufall fiele mühelos in die Douglas Adams’sche Kategorie der „unheimlich großen Unwahrscheinlichkeit“.

Als Set In Darkness erschien, bat ein Programm des BBC-Radios den First Minister des neuen schottischen Parlaments, Donald Dewar, es zu rezensieren. Er fand das Buch in seiner Darstellung der politischen Prozesse übermäßig zynisch und hatte auch sprachlich einiges daran auszusetzen. Besonders mein Bild „Augen wie der Rumpf einer Fregatte“ machte ihm zu schaffen. (Ich hätte ihm sagen können: grau und kalt – denken Sie „grau, stählern und kalt“.) Eines allerdings beeindruckte den gestrengen Mr. Dewar: meine Vertrautheit mit den räumlichen Gegebenheiten im Parlamentsgebäude. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie ich so gut Bescheid wissen konnte. Ein paar Wochen später fuhr ich mit dem Nachtzug von London nach Edinburgh. Als ich den Bahnsteig entlangging, sah ich Dewar zusammen mit seinen Beratern im Zugrestaurant sitzen, also stieg ich ein und setzte mich an den Nachbartisch. Nach einiger Zeit hörten sie auf zu reden und begaben sich einer nach dem anderen in ihre Abteile. Donald stand auf und setzte sich mir gegenüber an meinen Tisch. Wir kamen ins Gespräch. Ich fragte ihn, woher er wüsste, wer ich sei. Wie sich herausstellte, hatte einer seiner Gefolgsleute mich erkannt und ihm dringend davon abgeraten, sich mit mir zu unterhalten, damit ich das Gespräch nicht etwa in irgendeinem künftigen Projekt benutzte ...

Leider starb Donald ein paar Wochen später: Er stolperte vor seinem Büro über den Bordstein, fiel hin und schlug mit dem Kopf auf. Seine Bibliothek wurde dem Parlament vermacht, und so kam es, dass Set In Darkness wieder dort endete, wo alles angefangen hatte.

Könnte natürlich purer Zufall sein.

Ian Rankin
Deutsch von Giovanni und Ditte Bandini

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